Allianz Global Investors "Die Woche voraus" vom 20.05.2022
Die geopolitische Lage bleibt ein wichtiges Thema, und die Kapitalmärkte beobachten die Geldpolitik der Federal Reserve („Fed“) genau. Darüber hinaus ist auch die Situation in China für die Anleger von Interesse. Ob eine globale Stagflation eintritt, hängt nicht zuletzt vom Konjunkturverlauf in China ab. Kann die chinesische Regierung ihre „dynamische NullCovid-Politik“ fortsetzen und gleichzeitig die angestrebte Wachstumsrate von rund 5,5% für dieses Jahr erreichen? Das ist die zentrale Frage für die Anleger.
Die in dieser Woche veröffentlichten chinesischen Makrodaten für April haben da für etwas mehr Klarheit gesorgt – wenn auch vielleicht eher im negativen Sinne, da die Daten recht enttäuschend waren. Praktisch alle Makrodaten – Industrieproduktion, Einzelhandelsumsätze, Anlageinvestitionen, Immobilienverkäufe usw. – fielen deutlich schwächer aus. Die Prognosen für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal wurden weiter gesenkt, und gegenüber dem Vorquartal ist mit einer spürbaren Verlangsamung zu rechnen. Nach einem enttäuschenden Start in der ersten Jahreshälfte sieht es so aus, als sei eine Aufholjagd, um das Ziel für das Gesamtjahr zu erreichen, gar nicht so einfach.
Aber auch wenn die Aussichten für dieses Jahr eher trübe erscheinen – in der Vergangenheit hat Chinas Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte häufig überrascht. Grund dafür ist der große staatliche Sektor, dessen Anteil am chinesischen BIP bei rund 40% liegt und der einspringen kann, wenn es im privaten Sektor hakt. So legte die chinesische Regierung im Jahr 2009 ein Konjunkturpaket mit einem Volumen von 4 Billionen Renminbi für Infrastrukturinvestitionen nach der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 auf.
Die rasche Steigerung der staatlichen Investitionen und der sprunghafte Anstieg der privaten Immobilieninvestitionen trugen 2009 insgesamt 8 Prozentpunkte zum Gesamtwachstum des BIP bei und glichen die Belastung durch den Außenbeitrag (4 Prozentpunkte) mehr als aus, die sich durch den Einbruch der weltweiten Nachfrage ergab.
Allerdings hatte diese „synthetische“ Steigerung der Binnennachfrage ihren Preis. In den Folgejahren hatte China mit einer deutlich höheren privaten und öffentlichen Verschuldung und einem stetigen Rückgang der Investitionseffizienz zu kämpfen. Diese Probleme sind immer noch nicht gelöst. Nichtsdestotrotz kann die chinesische Regierung dieses Jahr sicherlich wieder den Turbo zünden, wenn sie das Wachstum ankurbeln will und den bitteren Nachgeschmack akzeptiert. China kann das Wachstumsziel von „rund 5,5%“ im Jahr 2022 erreichen, wenn es das wirklich will. Um das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen, muss jedoch erkennbar sein, dass die Covid-19-Pandemie halbwegs unter Kontrolle ist, dass die staatliche Maschinerie mit voller Kraft arbeitet und dass das Wachstum um jeden Preis gestützt werden soll.
Chinas Wachstumspfad ist für die Schwellenländer und die Weltwirtschaft insofern wichtig, als das Land den größten Beitrag zum Wachstum der Weltwirtschaft leistet. China ist zudem der größte Abnehmer von Rohstoffen und hat damit Einfluss auf die Aussichten für die globalen Rohstoffmärkte und die Preise für wichtige Energieträger und Rohstoffe wie Öl, Kohle, Flüssiggas, Eisenerz, Stahl, Aluminium usw.
Chinas Wachstumsaussichten für die zweite Jahreshälfte richtig einzuschätzen ist gar nicht so einfach, zumal sich die Lage ganz unterschiedlich entwickeln kann. Rot oder schwarz? Die Roulettekugel rollt, und bald werden wir mehr wissen.
Die Woche voraus
In der kommenden Woche stehen mehrere Stimmungs- und Umfragedaten an. Zu nennen sind unter anderem der ifoIndex in Deutschland und die Vorabschätzungen für die Einkaufsmanagerindizes für das verarbeitende Gewerbe in mehreren europäischen Ländern und den USA. So können die Anleger den Zustand der europäischen Volkswirtschaften nach Russlands Invasion der Ukraine besser einschätzen. Indizes für das Verbrauchervertrauen in Frankreich, Deutschland und Italien werden uns mehr über die Konsumnachfrage in Europa verraten.
In den USA stehen derweil der Chicago National Activity Index am Montag, der Richmond Fed-Index und die Neubauverkäufe am Dienstag und die Auftragseingänge für dauerhafte Konsumgüter sowie das Protokoll der Offenmarktausschuss-Sitzung am Mittwoch an. Die Marktteilnehmer werden das Sitzungsprotokoll genau unter die Lupe nehmen, um den Kurs der Fed einschätzen zu können. Am Donnerstag und Freitag werden dann in den USA noch die Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung und die Hausverkäufe sowie in Japan die VPI-Daten für die Region Tokio veröffentlicht.
Vor dem Hintergrund der insgesamt pessimistischen Stimmung an den Märkten dürften die Anleger weiterhin nach Anzeichen dafür suchen, dass sich die Gesamtlage für die Märkte verbessert. Die Wachstumsprognosen wurden wegen der zunehmenden geopolitischen Spannungen und der hohen Rohstoffpreise bereits gesenkt. Bisher wäre es jedoch unseres Erachtens verfrüht, eine längerfristige Stagflation oder weltweite Rezession zu erwarten. Vielleicht zeigen die Daten in dieser Woche ja, dass der Pessimismus in Bezug auf den weiteren Konjunkturverlauf abklingt – und hoffentlich gibt sich die Fed nicht zu falkenhaft.
Viel Glück für die kommende Woche!
Christiaan Tuntono
Senior Economist, Asia Pacific
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