Angriff auf die westliche Wertegemeinschaft
Mit Bestürzung und Sorge schreiben wir über die Invasion eines souveränen, europäischen Landes. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist ein Schock für die Weltgemeinschaft. In der Tat kam es für die meisten Marktteilnehmer wie auch für uns überraschend, dass ein solch kriegerischer Angriff mitten in Europa so plötzlich doch Realität wurde.
Übergelagert prallen hier zwei Welten aufeinander. Es ist zugleich auch ein Angriff auf das europäische Wertesystem mit dem Ziel der geopolitischen Einflussnahme auf dem eurasischen Kontinent. Die Ukraine - auf dem Weg zu einer westlicher orientierten Gesellschaft - wurde unter vorgeschobenen Gründen angegriffen.
Der Informationskrieg nimmt auf beiden Seiten seit Dekaden nicht mehr erlebte Ausmaße an. Als Externer sind die Entwicklungen vor Ort kaum nachvollziehbar, geschweige denn verifizierbar. Die Berichterstattung polarisiert zusätzlich und trägt nicht zu einer Entspannung der Lage bei. Ganz im Gegenteil: Es ist sehr bemerkenswert, dass sich der Westen, unter Mobilmachung der globalen Öffentlichkeit sowie Wirtschaft, in größter Partnerschaft und Einigkeit geschlossen gegen diese kriegerischen Handlungen wendet.
Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass die westliche Welt gemeinsam das Vorgehen Russlands so scharf verurteilt und strenge Sanktionen verhängt, die die russische Wirtschaft kurzfristig hart treffen und Druck aus dem Inneren aufbauen sollen. Auch die lange Zeit verkannten Sicherheitsbedürfnisse Europas wurden wiederentdeckt.
Während sich der Kapitalmarkt zu Beginn des Jahres noch über Themen wie die maximale Anzahl an Zinsschritten in 2022 Sorgen machte und die Pandemie nur langsam in den Hintergrund rückte, verschob sich der Fokus der Marktteilnehmer mit Ausbruch des Krieges abrupt.
In finanzieller Hinsicht erleben wir eine weitere Verschärfung der Zulieferketten-Problematik sowie Preiseskapaden an den weltweiten Rohstoffmärkten, die zu steigenden Energiepreisen und erheblichen Verlusten bei Risikoanlagen führen. Inflationssorgen nehmen Überhand, denn die nicht erst seit Zuspitzung des Konflikts eskalierenden Öl- und Gaspreise schüren die Teuerung nur noch mehr. Die zusätzlichen Risiken für das Weltwirtschaftswachstum bringen Geldpolitiker weltweit in das Dilemma eines stagflationären Umfelds. Zwar ist der direkte Anteil Russlands und der Ukraine am weltweiten BIP kleiner 3 Prozent, und Russland bereits seit der Annexion der Krim 2014 zunehmend isoliert, doch sind die indirekten Folgen noch nicht genau abzuschätzen.
Im Kontext hochvolatiler Märkte ist es schwierig, die kurz- bis mittelfristige Einschätzung des Marktes von den tatsächlichen, mittel- bis langfristigen, realwirtschaftlichen Auswirkungen auf die Entwicklung der Unternehmensgewinne zu trennen. Die Börse ist ein Diskontierungsmechanismus, der jedoch aktuell durch die neuen, unbekannten Unsicherheitsfaktoren keine guten Ergebnisse vorbringt.
Der Markt durchlebte in den letzten beiden Monaten enorme Sektorrotationen, zum einen durch die neuen Gegebenheiten einer post-Corona-Welt, die erwarteten Zinsanstiege und nun durch die geopolitische Eskalation. Aus den teils undifferenzierten Abverkäufen in diesen makro-getriebenen Märkten ergaben sich enorme Verwerfungen und Diskrepanzen in den Aktienkursentwicklungen. Die Einzeltitelselektion ist für einen aktiven Fondsmanager in einem solchen grob vereinfachenden Umfeld herausfordernd. Gerade in solchen Momenten ergeben sich jedoch auch Chancen, die allerdings oft erst im Nachhinein als offensichtlich erscheinen. Hier gilt es, sich die langfristigen Renditepotentiale des Aktienmarktes in Erinnerung zu rufen.
Wir sehen die Bereitschaft des Westens, sich Rezessionsentwicklungen vehement entgegenzustellen, da hier unseres Erachtens auch der Erhalt des westlichen Wertesystems auf dem Spiel steht. So sind die europäischen Staaten bereit, größtmögliche Anstrengungen diesbezüglich zu unternehmen. Die demokratischen Nationen nehmen das sehr ernst.
Mit einer Aufhellung der Situation ist auch das Potenzial für die Aktienmärkte auf diesen Niveaus enorm. Wir sehen bei vielen Aktien außerordentlich niedrige Bewertungen. Generell ist ein gewisses Maß an Rationalität eine Mindestvoraussetzung, um eine solch widrige Phase wie aktuell umsichtig zu überstehen – dies hat uns nicht zuletzt das Frühjahr 2020 gezeigt, als Corona die ganze Welt quasi unvorbereitet traf. Die Erfahrung, wie unsere Portfoliounternehmen mit der Pandemie umgegangen sind - mit Agilität und Flexibilität - gibt uns die Zuversicht, dass auch die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen gut gemeistert werden können. Die jüngsten Ergebnisse zahlreicher Unternehmen haben eindrucksvoll gezeigt, dass diese auch in schwierigem Fahrwasser sehr solide Ergebnisse vorlegen.
Autoren: Olgerd Eichler, Evy Bellet, Alexander Dominicus und Alexander Lippert, Portfoliomanager und Portfoliomanagerin des MainFirst Top European Ideas Fund & MainFirst Germany Fund
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