Kapitulation! Kapitulation?

Ethenea - Marktkommentar November 2022

Im Oktober, als die bedeutendsten Aktienindizes neue Jahrestiefs markierten, war vermehrt von der Kapitulation vieler Anleger zu lesen. Stimmt das? Haben weite Kreise von Anlegern die Flinte ins Korn geworfen und die Aussicht auf künftig steigende Aktienkurse ad acta gelegt? Unter Gesichtspunkten der Verhaltensökonomie wäre dies durchaus als konstruktives Zeichen für die künftige Entwicklung der Aktienmärkte zu werten. Ein Zeichen, auf das nicht wenige antizyklisch agierende Anleger sehnsüchtig warten.

„Wenn alle Anleger einen positiven Ausblick haben und auch schon entsprechend in ihren Portfolios positioniert sind, wird die Luft für weitere Kursgewinne sehr dünn. Im umgekehrten Fall – wenn der Ausblick und die Stimmung schlecht sind und viele Anleger ihre Aktien verkauft haben – ist die Ausgangssituation für künftige Kursgewinne eine ganz andere!“

Christian Schmitt

Sicherlich ist Ihnen schon mal eine Grafik begegnet, in der die mentale Verfassung eines beispielhaften Anlegers in den unterschiedlichen Phasen eines Börsenzyklus schematisch dargestellt ist. Während der Börsenhausse breitet sich zunehmend Optimismus aus, der mit der Zeit auch in überschwängliche Euphorie münden kann. Diese positive Grundstimmung ist ansteckend und verbreitet sich in der Regel auch abseits alteingesessener Anlegergruppen. Gier beziehungsweise die Aussicht auf einfach verdientes Geld werden oftmals zu einem markanten Leitmotiv. Den letzten Höhepunkt einer solchen Phase haben wir 2020/21 mustergültig miterleben können.

Unweigerlich kommt in jeder Übertreibungsphase irgendwann der Punkt, an dem die Kurse nicht mehr weiter steigen. Während erste nennenswerte Rücksetzer meist noch als Chance auf einen günstigen Einstieg gesehen werden, kann die Gefühlslage bei weiter fallenden Kursen im Zeitverlauf zunächst in Anspannung, Beunruhigung, später dann auch in Angst, Verzweiflung und schließlich in panische Kapitulation umschlagen. Doch wo stehen wir aktuell in diesem Börsenzyklus? Läuft schon Blut durch die Straßen, wie es einst John D. Rockefeller sehr brachial formulierte?

"The way to make money is to buy, when blood is running in the streets!"

John D. Rockefeller

Recht unstrittig ist die Tatsache, dass wir den Höhepunkt überwunden haben und uns in einem mehr oder minder ausgeprägten Bärenmarkt befinden. Nahezu alle großen Indizes erfüllen nicht nur das weithin als Definition eines Bärenmarktes anerkannte Kriterium eines Kursrückgangs von mehr als 20 % seit den Höchstständen, sondern zeigen auch typische Begleiterscheinungen einer Börsenbaisse wie beispielsweise stark erhöhte Kursausschläge. Letztgenannte übrigens in beide Richtungen – aufwärts ebenso wie abwärts. Marktsegmente, die in der vorangegangenen Euphoriephase die Bewegungen nach oben angeführt haben, verbuchen gegenwärtig die stärksten Kursverluste. Allen voran stehen unprofitable Technologieaktien sowie Kryptowährungen, die jeweils seit den letztjährigen Höchstständen im Schnitt Kursverluste von rund 75 % zu verbuchen haben. In diesen Segmenten sollte folglich eine Kapitulation am ehesten zu erwarten sein.

Erstaunlicherweise ist außer den immensen Kursverlusten kaum etwas von Kapitulation in den disruptiven Wachstumsmärkten der vergangenen Jahre zu spüren; den „Kampf“ hat hier noch niemand eingestellt. Nach wie vor dominieren der Glaube an den unaufhaltsamen technologischen Fortschritt und die Aussichten auf enormes zukünftiges Marktpotenzial die Diskussionen unter Analysten und Anlegern. Diese unzerstörte Hoffnung zeigt sich auch weiterhin anhand der Kapitalflüsse bei den bekanntesten und beliebtesten Produkten in diesem Segment. Globalen Leuchtturmcharakter hat der ARK Innovation Fonds der US-amerikanischen Fondsmanagerin Catherine Wood, der trotz eines Wertrückgangs von 60 % in den ersten zehn Monaten des Jahres im gleichen Zeitraum rund 1,4 Mrd. USD neue Anlegergelder einsammeln konnte. Ein beliebtes ETF eines anderen Anbieters, das mit dreifachem Hebel auf Halbleiteraktien setzt und seit Jahresbeginn deutlich über 80 % an Wert eingebüßt hat, konnte sogar 6,3 Mrd. USD an frischem Geldzufluss verbuchen. Ohne die negativen Vorzeichen vor den Performancezahlen würde hier eher der Eindruck von Euphorie, aber sicher nicht von panischer Kapitulation erweckt!

Sieht dies am breiten Markt anders aus? Aufschluss hierüber gibt z.B. regelmäßig die monatlich erscheinende Fondsmanagerumfrage der Bank of America (BofA), über die auf Bloomberg Mitte Oktober mit der Überschrift „Fondsmanagerumfrage der BofA schreit nach Kapitulation’“ berichtet wurde. Im Artikel heißt es, „die Stimmung von Fondsmanagern in Bezug auf Aktien und das Wachstum der Weltwirtschaft […] signalisiert eine vollständige Kapitulation.“ Und weiter: „[Die Strategen] verweisen darauf, dass die Anleger inzwischen 6,3 % ihrer Portfolios in bar halten. Einen so hohen Wert gab es seit April 2001 nicht. Mittlerweile gaben 49 % der Umfrageteilnehmer an, Aktien unterzugewichten.“ Tatsächlich hat sich die Stimmung im Laufe des Jahres merklich eingetrübt, was auch durch andere vergleichbare Umfragen bestätigt wird. Doch angesichts der oben genannten Zahlen bereits von einer Kapitulation zu sprechen, halten wir für deutlich verfrüht.

Die größte Diskrepanz unter Marktteilnehmern besteht weiterhin zwischen der Meinung und der Positionierung. Während es durchaus schwierig bis nahezu unmöglich ist, angesichts der Vielzahl an weltweiten Krisenherden – viele davon struktureller Natur und mit sich zuspitzender Tendenz – einen positiven Ausblick zu zeichnen, zeigen die strategischen Positionierungen und großen Mittelbewegungen noch ein anderes Bild. Einzig europäische Aktienfonds weisen seit Jahresbeginn signifikante Mittelabflüsse aus. In anderen Regionen der Welt kommen die Mittelzuflüsse gerade erst ins Stocken. Und das nach einem Jahr 2021, in dem die Mittelzuflüsse in Aktienfonds laut Zahlen von Goldman Sachs in etwa so hoch waren wie in den vorangegangen 20 Jahren zusammen.

„Die Anpassungen in den strategischen Positionierungen vieler Investoren gleichen eher einem großen Tanker als einem  wendigen Schnellboot. Manche scheinen noch in der Alternativlosigkeit der Aktie zu verharren, während die Mutter aller Blasen am Anleihenmarkt kontinuierlich weiter Luft verliert.“

Christian Schmitt

Eine andere Umfrage von J.P. Morgan brachte im September ebenfalls etwas Licht in die gegenwärtige Aktienpositionierung von professionellen Anlegern. Diese wurden gebeten, ihre aktuelle Positionierung in ihre eigene historische Positionierungsbandbreite einzuordnen. Lediglich 13 % befanden sich in den untersten drei Dezilen – das Gros stand irgendwo in der Mitte ihrer eigenen historischen Bandbreite. Analog zu den oben genannten 49 % an Marktteilnehmern, die Aktien derzeit untergewichten, bleibt erneut festzuhalten: Wirkliche Kapitulation sieht anders aus!

Zu guter Letzt: Wie sieht Ihre eigene Positionierung aus? Verspüren Sie Anzeichen einer Kapitulation bei sich selbst oder Ihren Kunden? Aus zahlreichen Gesprächen mit Kunden und anderen Marktteilnehmern lässt sich die gegenwärtige Gemütslage vieler Anleger am besten mit „angespannt“ zusammenfassen. Die Herausforderungen sind bekannt, aber die Theorie sowie die Erfahrungen der letzten Jahre haben gelehrt, dass Aussitzen eine veritable Strategie ist, oder sein soll. Zumindest war sie es in der Vergangenheit. Denn auch in der globalen Finanzkrise ist schließlich die Welt nicht untergegangen und Börsenindizes haben irgendwann wieder neue Höchstkurse erreicht.

Aussitzen ist dagegen nicht die bei ETHENEA verfolgte Strategie. Wir agieren lieber! Auf Herausforderungen, auf Gefahren, auf eine sich verändernde Welt. Wir wissen, dass viele Anleger ihre eigene, psychische Risikotragfähigkeit tendenziell überschätzen. Dass oft erst dann reagiert wird, wenn sich Panik ausbreitet. Hiervor möchten wir unsere Anleger bestmöglich schützen, indem wir unser Management nicht nur auf langfristigen, sondern auch auf mittelfristigen – und wo möglich gar kurzfristigen – Kapitalerhalt ausrichten.

Ob die große Kapitulation am Ende wirklich kommt? Wir wissen es nicht. „This time is different“ – dieses Mal ist es anders – hat durchaus Argumente. Glaubt man den volkswirtschaftlichen Prognosen, so wird die gegenwärtige wirtschaftliche Schwächephase nicht mit deutlich erhöhter Arbeitslosigkeit einhergehen. Und laut dem jüngsten Quartalsbericht der Bank of America haben zumindest deren amerikanische Bankkunden aktuell noch deutlich höhere Einlagen als es vor der Corona-Pandemie der Fall war. Alles gute Gründe, warum die gefallenen Kurse bis dato keinen gesteigerten Leidensdruck auf die Anleger ausüben. Dennoch bleiben wir bis auf weiteres eher vorsichtig. Das laufende Jahr hat schließlich bewiesen, dass die Kursrückgänge auch ohne Kapitulation der Anleger bisweilen sehr empfindlich ausfallen können.
 

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