Die etwas andere Zinswende
Etwas ketzerisch ließe sich anmerken, dass es die Zinswende in den vergangenen Monaten tatsächlich gegeben hat, nur ganz anders, als viele das erwartet hatten. Denn die Zinsen sind nicht deutlich gestiegen, wie viele Sparer es sich sehnlichst wünschen, sondern gefallen. Eine Wende in die falsche Richtung – aber warum?
Zunächst hatte die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) signalisiert, dass sie die 2019 geplanten Zinserhöhungen streichen werde. Außerdem wollen die Notenbanker im Herbst den Abbau der gewaltigen Notenbankbilanz stoppen. Es dauerte nicht lange, und die Europäische Zentralbank (EZB) zog nach. EZB-Chef Mario Draghi verschob die erhoffte Zinserhöhung, es wäre die erste seit der Finanzkrise gewesen, auf 2020. Frühestens. Draghi selbst wird dann nicht mehr im Amt sein. Sein Nachfolger, seine Nachfolgerin wird dann darüber befinden müssen, ob die Null- und Negativzinsen in der Eurozone weiter Bestand haben sollen oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ersteres zutreffen wird, dürfte wesentlich höher sein.
Weltweit sinken die Renditen
Die Auswirkungen der Notenbanksitzungen zeigen sich schnell an den Märkten: Die Rendite von US-Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren fiel seit dem Hoch im Oktober 2018 in der Spitze um 0,9 Prozentpunkte auf nur noch 2,34 Prozent. Zuletzt sind sie wieder leicht gestiegen. Auch andernorts rutschen die Renditen: In der Schweiz auf zeitweise minus 0,43 Prozent, auch in Deutschland wieder unter die Nulllinie.
Die Kommentatoren, auch viele von denen, die vor kurzem noch lauthals die Zinswende ausgerufen hatten, waren sich schnell einig: Die Zinsen werden wohl noch lange niedrig bleiben. Von einem Anstieg keine Rede mehr. Warum? Das globale Wachstum schwächelt. In den USA zeigt sich obendrein beim Blick auf die Zinsstrukturkurse ein interessantes Phänomen: Zeitweise rentierten US-Staatsanleihen mit langen Laufzeiten unter dem Niveau von kurzfristigen Titeln. In diesem Falle spricht man von einer inversen Zinsstrukturkurve – ein klares Indiz dafür, dass Anleihe-Investoren die Wachstumsaussichten pessimistischer
einschätzen. Doch damit nicht genug: Eine inverse Zinsstrukturkurve war in der Vergangenheit häufig Hinweis auf eine bevorstehende Rezession.
Ob die Zinsstrukturkurve als verlässlicher Rezessions-Indikator taugt, werden die kommenden zwölf Monaten zeigen. In vielen Berichten wird genau das fälschlicherweise behauptet. Zwar ging in den vergangenen 40 Jahren jeder US-Rezession eine inverse
Zinskurve voraus; jedoch folgte nicht jeder inversen Zinskurve auch eine Rezession. Volkswirte definieren eine Rezession als Zeitraum von mindestens zwei aufeinander folgenden Quartalen mit negativen Wachstumsraten. Rein technisch betrachtet reicht also schon ein winziger Rückgang der realen Wirtschaftsleistung von jeweils 0,1 Prozent aus. Eine solche Rezession spüren die Menschen nicht, sondern lesen von ihr in der Zeitung, wenn sie schon wieder vorbei ist.
„Echte“ Rezessionen sind von anderem Kaliber. Sie führen zu steigender Arbeitslosigkeit und fallenden Unternehmensgewinnen. Die Zahl der Insolvenzen legt kräftig zu. Investitionen und Konsum brechen ein. Gute Beispiele dafür waren die Rezessionen 2008 und 2001. Viele jüngere Marktteilnehmer kennen nur noch diese beiden und verbinden deshalb eine Rezession automatisch mit starken Einbrüchen an den Aktienmärkten. Das muss aber nicht der Fall sein, wie US-Rezession Anfang der 1990er-Jahre gezeigt hat. Damals war der USAktienmarkt kaum betroffen – vielmehr konnte er während der Rezessionsphase deutlich zulegen.
Auch die niedrige Inflation in den westlichen Industrieländern, die immer noch kein Heißlaufen der Wirtschaft vermuten lässt, spricht gegen einen klassischen Boom-Bust-Zyklus. Die tiefen Zinsen haben zwar die Preise von Vermögenswerten, von Immobilien oder Aktien, in die Höhe getrieben, aber eben keine nennenswerten Preissteigerungen oder massive
Überkapazitäten in der Realwirtschaft bewirkt.
An unserem Weltbild hat sich deshalb nichts verändert: Die Wirtschaft wächst auf Sicht, aber eben nur noch moderat. Gewaltige Schuldenberge, die Alterung der Industriegesellschaften und Strukturprobleme in bedeutenden Schwellenländern dämpfen die globale Konjunktur.
Wir sollten uns deshalb von den zum Teil kräftigen Wachstumsraten der Vergangenheit verabschieden. Die Zinsen bleiben unseres Erachtens tief – erstklassige Aktien in diesem Umfeld die Anlageklasse mit dem besten Chance-Risiko-Verhältnis.
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