Von wegen, vorübergehende Inflation
Der Anstieg der deutschen Verbraucherpreise war zuletzt so steil wie seit 42 Jahren nicht. Der Höhepunkt steht wahrscheinlich noch bevor.
Jetzt ist es offiziell: Die deutsche Inflation hat die höchste Rate seit den 1970er Jahren erreicht
Wie in anderen Ländern muss man weit zurück in die Wirtschaftsgeschichte blicken, um vergleichbare Verbraucherpreiserhöhungen zu finden, wie sie Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine und die anhaltenden Lieferschwierigkeiten im Windschatten der Covid-Pandemie hervorgerufen haben. Im März 2022 sind die Lebenshaltungskosten in Deutschland nach hiesiger Messmethode auf dem besten Weg, um 7,3 Prozent zu steigen. Bei der EU-weit harmonisierten Messgröße lag der Anstieg im Jahresvergleich für Deutschland mit 7,6 Prozent sogar noch etwas höher.1 Dies ist der höchste Anstieg seit März 1974. Spitzfindige mögen argumentieren, dass zahlreiche sowohl gesamtwirtschaftliche wie auch methodische Veränderungen im Laufe der Jahre den Informationsgehalt solcher Vergleiche einschränken.2 Am Mittwochmeldete Spanien ebenfalls seine geschätzte Inflation von 9,8 Prozent im März, was dort allerdings „nur“ den größten Anstieg seit 1985 darstellen würde.3 Für die Eurozone insgesamt dürfte die am Freitag erwartete Erstschätzung für März wohl bei etwa 7,5 bis 8 Prozent liegen, wobei Länder wie Frankreich den Durchschnitt wahrscheinlich etwas nach unten drücken werden. Im Großen und Ganzen lässt sich jedoch längst nicht mehr zu leugnen, dass sich die Inflation beschleunigt hat und dies wahrscheinlich noch eine ganze Weile tun wird.
Markt- und politische Auswirkungen
Die Inflationszahlen selbst waren keine große Überraschung. Die Märkte sahen sie kommen. Bereits am Dienstag notierten die Renditen zweijähriger Bundesanleihen erstmals seit 2014 im positiven Bereich. Innerhalb der Verbraucherpreisindizes sind die Hauptschuldigen meist leicht auszumachen. Vorerst bleiben die drei üblichen Hauptverdächtigen: Energie, Energie und Energie. Im deutschen Fall stiegen die Energiepreise um 39,5 Prozent, gefolgt von Lebensmitteln mit 6,2 Prozent, verglichen mit „nur“ 3,1 Prozent für Dienstleistungen.
"Im deutschen Fall stiegen die Energiepreise um 39,5 Prozent"
Allerdings nimmt auch der Preisdruck in Europa auf breiter Front zu, ebenso wie bereits in den Vereinigten Staaten seit Herbst 2021. Darüber hinaus erfassen die gerade gemeldeten Inflationsanzeigen nur die erste Hälfte des Monats. Das bedeutet, dass die jüngsten Preissprünge nicht nur bei Öl und Gas, sondern auch bei anderen Rohstoffen, die Putins Krieg verursacht haben, noch nicht erfasst sind. Von Zweitrundeneffekten ganz zu schweigen, denn immer mehr Firmen nutzen die Gelegenheit, ihre Preise zu erhöhen. In Verbindung mit angespannten Arbeitsmärkten in Ländern wie Deutschland dürfte dies in absehbarer Zeit auch das Lohnwachstum ankurbeln. Alles in allem kein einfaches Umfeld für die Europäische Zentralbank (EZB), wie deren Präsidentin Christine Lagarde am Mittwoch einräumte.4 Mit der Aufstellung von Notfallplänen für den Fall einer Gasrationierung in Deutschland sind die Risiken einer konjunkturellen Abschwächung in den letzten Wochen deutlich gestiegen. Dennoch erwarten wir, dass die EZB der Bekämpfung der Inflation Priorität einräumen wird, um die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen zu verringern.
Auswirkungen auf die Anlageklassen
Anleihen und Währungen: Für die Rentenmärkte dürften einzelne Inflationszahlen inzwischen weniger wichtig sein als die allgemeinen Trends. Allerdings erhöht jede neue Inflationsveröffentlichung den Druck auf die Zentralbanken, ihre Glaubwürdigkeit zu verteidigen, selbst auf das Risiko negativer konjunktureller Folgen hin. Auch an den Devisenmärkten sehen wir die neuesten deutschen Zahlen nicht als Wendepunkt. Seit Ausbruch des Krieges haben die Märkte bereits eine deutliche Verschlechterung des Wachstums-Inflations-Bildes in der Eurozone eingepreist, und der Euro hat 3 bis 4 Prozent gegenüber den Währungen von Rohstoffproduzenten wie Australien, Neuseeland, Kanada und Norwegen verloren. Gegenüber dem US-Dollar war der Euro in letzter Zeit relativ stabil, teilweise weil die USA mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Allerdings könnte sich die Aussicht auf eine Straffung der EZB-Politik als geringfügig positiv für den Euro erweisen.
Aktien: Angesichts der vielen Unsicherheiten, nicht zuletzt rund um Putins Krieg, ist es für Entwarnungen aus unserer Sicht jedenfalls noch zu früh. Dafür bleibt die militärische Situation in der Ukraine vorerst zu unsicher, und die Aussichten auf nachhaltige diplomatische Lösungen viel zu ungewiss. Darüber hinaus lohnt es sich aber schon jetzt, selektiv auszuwählen, welche Unternehmen oder Branchen über Preissetzungsmacht verfügen, idealerweise verbunden mit einer ausgeprägten Kostendisziplin. Auch Zinsänderungen werden sowohl Gewinner als auch Verlierer hervorbringen.
Alternative Anlagen: Der steigende Preisdruck im Allgemeinen und bei Baukosten im Besonderen dürfte die Attraktivität von Immobilien als klassischem Inflationsschutz weiter erhöhen, insbesondere für Bestandsobjekte mit teilweise oder vollständig inflationsindexierten Mietverträgen. Infrastrukturanlagen sind in einem inflationären Umfeld ebenfalls gut positioniert, da sie aufgrund ihrer Monopolstellung typischerweise in der Lage sind, allgemeine Preissteigerungen an ihre Kunden weiter zu reichen. Zudem sehen Regulierung oder vertragliche Rechte mitunter explizite Inflationsbindungen vor. Trotzdem sind eine vorsichtige Auswahl und sorgfältige Risikobewertung in dieser Hinsicht stets erforderlich.
ESG-Auswirkungen: Covid-19 und Putins Krieg haben Anlegern auf ihre eigene Weise dargestellt, wie schnell einst undenkbare Risiken plötzlich real werden können. Der starke Anstieg der Rohstoffpreise und die geopolitische Unsicherheit sprechen unseres Erachtens dafür, Nachhaltigkeit ernst zu nehmen, nicht zuletzt bei der Energieversorgung. Zugegebenermaßen bleibt in der Finanzdienstleistungsbranche noch viel zu tun, um diese philosophische Erkenntnis vollständig in die Praxis zu übertragen. Beispielsweise wurde in den letzten Tagen häufig darauf hingewiesen, dass einige Risiken im Zusammenhang mit Russland in weit verbreiteten Analysewerkzeugen übersehen wurden, buchstäblich bis zum Vorabend von Putins Krieg gegen die Ukraine.5 Nachdem wir ESG-Themen in den letzten zehn Jahren viel Aufmerksamkeit gewidmet haben, möchten wir jedoch sanft darauf hinweisen, dass (a) generische Bewertungen immer nur den Beginn und nicht das Ende einer ernsthaften Investmentanalyse markieren dürfen und (b) wir Russland gegenüber schon seit längerer Zeit ziemlich vorsichtig waren.
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Fußnoten
1siehe Link
2siehe Link
3siehe Link
4siehe Link
5siehe Link ; siehe Link ; siehe Link