DWS CIO View vom 13.02.2025
Im November ist die Regierungskoalition in Deutschland geplatzt. Wer wird in Zukunft regieren? Wird die neue Regierung in der Lage sein, die großen strukturellen Probleme des Landes anzugehen? Und was bedeutet dies für deutsche Finanzanlagen?
In Kürze
- Deutsche Bundestagswahlen waren früher eine eher langweilige Angelegenheit. Diesmal jedoch nicht! Bei einer fragmentierten Parteienlandschaft könnten nur vier oder möglicherweise bis zu neun Parteien in den nächsten Bundestag einziehen.
- Die stagnierende Wirtschaft braucht große Strukturreformen. Eine rasche Regierungsbildung könnte dabei helfen. Die Wahl birgt jedoch das Risiko, dass es zu einer Phase der Unsicherheit kommt, ohne stabile politische Mehrheiten.
- Wir sind jedoch der Meinung, dass die Märkte einen klaren Sieg der Unionsparteien, gefolgt von einer raschen Regierungsbildung, als eine leicht positive Überraschung betrachten würden.
Am 23. Februar wählt Deutschland nach einem besonders hitzigen Wahlkampf ein neues Parlament in einem Wahlverfahren, das komplexer ist als in den meisten Ländern. Das Kräfteverhältnis, das sich zwischen den vielen verschiedenen Parteien herausbildet, wird für die Bildung einer wahrscheinlich neuen Koalitionsregierung von entscheidender Bedeutung sein. Die Koalition, die bis November 2024 regierte, zerbrach nicht zuletzt an der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Bildung einer neuen Regierung wird wahrscheinlich politische Verhandlungen zwischen den Parteien mit sich bringen, die schnell voranschreiten könnten, wenn die Wahl einen klaren Sieger hervorbringt, sich aber in die Länge ziehen könnten, wenn dies nicht der Fall ist. Es könnte Monate dauern, bis eine neue politische Agenda formuliert ist.
Die Wahl ist der Ausgangspunkt für unsere Analyse. Anschließend untersuchen wir, warum die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren Probleme hatte und inwieweit nach der Wahl eine Verbesserung möglich sein könnte. Welche Vorschläge haben die Parteien zur Stärkung der deutschen Wirtschaft und welche haben die größten Chancen, unter verschiedenen politischen Konstellationen umgesetzt zu werden? Und was bedeutet das alles für deutsche Finanzanlagen und für Investoren?
1 / Die deutsche Parteienlandschaft
1.1 In den letzten Jahrzehnten wurde der Bundestag zunehmend bunter
Bei den bevorstehenden Wahlen kämpfen viele Parteien um das Recht, die politische Zukunft Deutschlands zu beeinflussen. In den Umfragen liegen derzeit die Christlich Demokratische Union (CDU) und ihre bayerische Schwesterpartei, die Christlich-Soziale Union (CSU), vorne. Zusammen sind sie als Unionsparteien bekannt. Sie vertreten die Mitte-Rechts-Parteien in Deutschland und legen traditionell Wert auf wirtschaftliche Stabilität, nationale Sicherheit und eine starke Europäische Union (EU). Sowohl die CDU, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, als auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die im 19. Jahrhundert entstand und ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat, waren historisch gesehen bisher die einzigen Parteien, die den Kanzler nominieren konnten. Die SPD ist eine Mitte-Links-Partei, die sich seit langem für soziale Gerechtigkeit, Arbeitnehmerrechte und die Stärkung des Wohlfahrtsstaates einsetzt. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen – allgemein nur als Grüne bezeichnet – hat ihre Wurzeln in der Umweltbewegung der 1980er-Jahre, sowie der Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR, und legt den Schwerpunkt auf Umweltfragen, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Die Alternative für Deutschland (AfD), die 2013 unter anderem als Reaktion auf die Krise in der Eurozone gegründet wurde, ist eine rechtspopulistische Partei, die durch ihre scharfe Rhetorik und ihre Kritik an der Einwanderungspolitik und der EU an Zugkraft gewonnen hat.
Neben diesen großen Parteien konkurrieren auch zahlreiche kleinere Parteien um Einfluss auf die Gestaltung der politischen Zukunft Deutschlands. Die 1948 mit dem vorrangigen Ziel des Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft gegründete Freie Demokratische Partei (FDP) ist bekannt für ihre liberale Wirtschaftspolitik, ihr Eintreten für individuelle Freiheiten und ihr Engagement für eine freie Marktwirtschaft. Die Linke, die aus der Partei des Demokratischen Sozialismus in der ehemaligen DDR hervorgegangen ist, steht für demokratischen Sozialismus, Antikapitalismus und Pazifismus und spricht Wähler der äußersten Linken an. Dann gibt es noch das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), eine Partei, die kürzlich von der ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Partei Die Linke, Sahra Wagenknecht, gegründet wurde und die in Wirtschaftsfragen Linkspopulismus mit Kulturkonservatismus verbindet. Schließlich gibt es noch die Freien Wähler (FW), die keine traditionelle Partei, sondern ein loser Zusammenschluss unabhängiger Wähler und Kommunalpolitiker sind und Basisdemokratie, Dezentralisierung und gemeinschaftsorientierte Politik betonen. Ihre Haltung zu politischen Themen variiert oft je nach Region.
1.2 Umfragen und der Stand des Wahlkampfs
Angriffe von Migranten haben die Migrationsfrage zum Hauptthema des Wahlkampfs gemacht
Deutschland hat einen der härtesten Wahlkämpfe seit Menschengedenken hinter sich. Eine Reihe tödlicher Messerstechereien und anderer Angriffe durch Migranten, zuletzt im Januar in Aschaffenburg, haben für große Beunruhigung gesorgt und die Bedeutung der Migration als Wahlkampfthema in den letzten Wochen des Wahlkampfs weiter erhöht, was zu scharfen Debatten im Parlament führte.1
Die vorherige Regierung unter Kanzler Olaf Scholz war unbeliebt und die Ampel-Koalition, die nach den Farben der beteiligten Parteien, der Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP), benannt ist, brach im November unter gegenseitigen Schuldzuweisungen spektakulär zusammen. Man hätte erwarten können, dass die Unionsparteien, als größte Oppositionskraft, davon profitieren würde. Doch ein Blick auf die Umfragewerte zeigt, dass CDU und CSU seit dem Zusammenbruch der vorherigen Regierung eher an Boden verloren haben. Dies ist eine höchst ungewöhnliche Entwicklung, die vielleicht die anhaltenden Zweifel einiger Wähler widerspiegelt, ob sie die Unionsparteien so schnell wieder in der Regierung haben wollen. Es kann auch sein, dass die Wähler allen großen Parteien misstrauen und das Gefühl haben, dass keine die Probleme des Landes erfolgreich angegangen ist. Vor Scholz' Amtszeit als Bundeskanzler waren die Unionsparteien 16 Jahre lang an der Macht, in denen Reformen aufgeschoben wurden, da es der Wirtschaft anscheinend gut ging. Seitdem ist einigen Wählern vielleicht klar geworden, dass viele strukturelle Probleme bereits vor der Ampel bestanden. Die frühere Offenheit der Christdemokraten gegenüber Migration könnte sie auch die Unterstützung der Bevölkerung gekostet, und so die AfD gestärkt haben.
Umfragewerte zeigen kleine, aber potenziell signifikante Veränderungen seit Ankündigung der Neuwahlen.
Es ist noch zu früh, um die Auswirkungen der jüngsten parlamentarischen Manöver zu beurteilen
Die Umfragewerte sind uneinheitlich und deuten darauf hin, dass viele Wähler unentschlossen bleiben – und daher offen dafür sind, von der einen oder anderen Partei überzeugt zu werden. So zeigen die gleichzeitigen Ergebnisse zweier normalerweise recht zuverlässigen Meinungsforschungsinstitute eine Unterstützung für CDU/CSU zwischen 28 % und 34 % – eine ungewöhnlich große Bandbreite.2
Bis zu dem tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg, bei dem ein Mann und ein zweijähriger Junge getötet wurden, hatten die Unionsparteien versucht, so wenig wie möglich über Migration zu sprechen, vermutlich weil die Partei der Ansicht war, dass ihre Wirtschaftspolitik bei ihrer Zielgruppe eher auf Zustimmung stoßen würde. Ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz versucht seit Jahren, eine Zusammenarbeit mit der rechtsextremen AfD zu vermeiden, was ihm jedoch nicht immer gelang, auch auf lokaler und regionaler Ebene. In den letzten Tagen der aktuellen Legislaturperiode entschlossen sich die Unionsparteien jedoch, zusammen mit der AfD und den Freien Demokraten (FDP), im Bundestag eine nicht bindende Entschließung zur Migration zu verabschieden.
Diese gemeinsame Abstimmung war äußerst umstritten, da sie wohl gegen die sogenannte „Brandmauer“ oder „Firewall“ verstieß – eine Entscheidung aller Parteien der Mitte, dass sie nicht mit der extremen Rechten zusammenarbeiten würden, insbesondere auf nationaler Ebene. Dies führte Ende Januar zu einer Einmischung der ehemaligen Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Angela Merkel in die Debatte, in der sie Merz kritisierte und sagte, es sei falsch für die CDU, derartige Mehrheiten in Kauf zu nehmen.
Ein späterer Versuch, ein echtes Einwanderungsgesetz (zumindest durch den Bundestag) zu verabschieden, scheiterte, aber nicht ohne die Spaltungen innerhalb der Christdemokraten weiter zu verdeutlichen. Obwohl Merz in den letzten Tagen alles daran gesetzt hat, die AfD als inakzeptablen Partner für jede Regierungsvereinbarung darzustellen, gehen wir davon aus, dass die Unionsparteien den Rest des Wahlkampfs von Fragen über den Flirt der Partei mit der extremen Rechten verfolgt werden dürften.
1.3 Wie aus Umfragen Mehrheiten werden
Ein komplexes System, in dem kleinere Parteien eine große Rolle spielen
Das deutsche Wahlsystem ist nach wie vor ungewöhnlich komplex und bei deutschen Bundestagswahlen ist die letztendliche Anzahl der Parlamentssitze schwer vorherzusagen.
Im Gegensatz zu den Wählern in den meisten Ländern erhalten die Deutschen bei der Bundestagswahl zwei Stimmen – eine für einen lokalen Kandidaten in jedem der 299 Wahlkreise des Landes und eine für eine Parteiliste.3 Der Gewinn von 5 Prozent der nationalen Stimmen über die Parteiliste ist eine Möglichkeit, über ein Verhältniswahlsystem in den Bundestag einzuziehen.
Die andere Möglichkeit besteht darin, sich sogenannte „Direktmandate“ zu sichern. Wähler, die besonders daran interessiert sind, einer kleinen Partei zum Erfolg zu verhelfen, haben daher zwei Möglichkeiten: Sie können ihre Listenstimme abgeben, damit die Partei die 5-Prozent-Hürde auf nationaler Ebene nimmt, oder sie können für den Kandidaten dieser Partei vor Ort stimmen, wenn sie in einem Wahlkreis leben, der für die kleine Partei ungewöhnlich günstig ist. In den meisten Fällen gewinnt der-/diejenige, der/die in einem Bezirk die meisten Stimmen erhält, ein Direktmandat.4 Wenn eine Partei mindestens drei solcher Direktmandate gewinnt (d. h. in mindestens drei Wahlkreisen eine Mehrheit der Erststimmen erhält), kann sie in den Bundestag einziehen und an der Sitzverteilung teilnehmen, die nach dem Verhältniswahlrecht, das durch den Anteil der Zweitstimmen definiert ist, erfolgt.5
Daher ist es bis zur Wahl unklar, welche der kleineren Parteien im Bundestag vertreten sein werden. Abgesehen von Unionsparteien, Sozialdemokraten, Grünen und der AfD ist die einzige andere Partei, die sehr wahrscheinlich mindestens einen Sitz gewinnen wird, die Regionalpartei Südschleswigscher Wählerverband (SSW).6
Darüber hinaus liegen die beiden linken Parteien BSW und Die Linke in den Umfragen bei etwa 5 Prozent, während die eher rechtsgerichteten, liberalen Freien Demokraten in der Regel etwas darunter liegen.
Direktmandate könnten kleineren Parteien den Einzug in den Bundestag ermöglichen
Die wichtigste praktische Auswirkung der Direktmandate ist, dass Die Linke recht gute Chancen hat, in den Bundestag einzuziehen, auf Grund vergleichsweise guter Aussichten auf drei Direktmandate in den Wahlkreisen im ehemaligen kommunistischen Osten zu gewinnen – und eine Reihe bekannter Kandidaten für diese Sitzen.7
Die rechtspopulistischen Freien Wähler (FW) sind derzeit Juniorpartner in einer Regierungskoalition mit der CSU in Bayern und streben dort vier Direktmandate an, was jedoch schwieriger einzuschätzen ist.8
Im Gegensatz dazu deuten Umfragedaten, die Wahlhistorie und der bisherige Wahlkampf darauf hin, dass die Freien Demokraten, deren Stimmen relativ gleichmäßig über das ganze Land verteilt sind, wahrscheinlich keine Chance auf Direktmandate haben werden, unabhängig davon, ob sie landesweit unter 5 Prozent liegen oder nicht.
1.4 Was daraus für die Regierungsbildung folgt
Wie werden die jüngsten Ereignisse die Wahl beeinflussen?
Das Fazit all dessen ist, dass Investoren schlecht beraten wären, die wahrscheinlichen Ergebnisse sowohl der Wahl selbst als auch die Koalitionsgespräche vorwegzunehmen.
Es bleibt unklar, ob die jüngsten Abstimmungen über die Einwanderung, bei denen die Unionsparteien auf die Unterstützung der AfD zurückgegriffen haben, der CDU/CSU helfen oder schaden werden. Merz, der Vorsitzende der Christdemokraten, hat seine Vorschläge zur Migration, die die Einreise von Einwanderern erschweren werden, zu einem entscheidenden Punkt für die Koalitionsverhandlungen gemacht. Dies könnte zu erheblichen Hindernissen für eine Koalition mit den Grünen oder den Sozialdemokraten führen. Und es könnte notwendig sein, nicht nur die Vorsitzenden dieser Parteien, sondern auch ihre einfachen Mitglieder zu überzeugen, die wahrscheinlich (auf die eine oder andere Weise) zu jedem Koalitionsabkommen konsultiert werden.
Mögliche Koalitionsergebnisse
Vor diesem Hintergrund ist es ratsam, sich auf eine Reihe von Szenarien nach der Wahl vorzubereiten. Insbesondere sollten sich Anleger bewusst sein, dass sowohl ein klares Ergebnis, das zur raschen Bildung einer stabilen Koalition mit einer Mehrheit im Bundestag führt, als auch ein unklares Ergebnis und längere Phasen politischer Unsicherheit, möglich sind.
Die größte Unwägbarkeit könnte die Frage sein, welche Parteien entweder mindestens 5 Prozent der Stimmen auf nationaler Ebene oder 3 Direktmandate erhalten. Die kleineren Parteien repräsentieren zusammen etwa 20 Prozent der Wähler. Wenn jedoch keine von ihnen einen Sitz im Bundestag erhält, würde ein kombinierter Wähleranteil von nur 40 Prozent der möglichen Koalitionspartner wahrscheinlich ausreichen, um eine Mehrheit der Bundestagsmandate zu erhalten. Wenn es andererseits allen oder den meisten kleineren Parteien gelingt, einige Sitze zu gewinnen, müsste eine Koalition wahrscheinlich eine kombinierte Wählerunterstützung im Bereich von 45 bis 50 Prozent erreichen.
Welche der kleineren Parteien Sitze gewonnen haben und welche Unterstützung in der Bevölkerung wahrscheinlich erforderlich ist, um eine Koalition zu bilden, sollte in der Wahlnacht oder kurz danach klar werden. Positive wie negative Überraschungen bei den Wahlergebnissen könnten zu erheblichen Veränderungen in den Parteiführungen führen. Wenn beispielsweise die Unionsparteien ihr katastrophales Wahlergebnis von 24 Prozent im Jahr 2021, das niedrigste Ergebnis der Partei seit dem Zweiten Weltkrieg, kaum verbessern und gegenüber der SPD, den Grünen, der AfD oder sogar allen dreien an Boden verlieren, würde Merz wahrscheinlich zurücktreten, wie es sein Vorgänger Armin Laschet im Jahr 2021 getan hat. Ein Rücktritt von Merz, so unwahrscheinlich er zum jetzigen Zeitpunkt auch erscheinen mag, könnte die Koalitionsverhandlungen erleichtern, aber das würde auch vom Profil des Nachfolgers von Merz abhängen. Nach seiner Abstimmung mit der AfD wird Merz von den Grünen und den Sozialdemokraten misstrauisch beäugt, aber die meisten anderen Abgeordneten der Unionsparteien haben ebenso abgestimmt. Kurz gesagt, wenn es keine dramatische Überraschung gibt, wird die nächste Regierung wahrscheinlich von den Unionsparteien geführt werden, aber darüber hinaus ist eine Vielzahl von Ergebnissen möglich.
Könnte es eine Minderheitsregierung geben?
Umgekehrt könnte ein überraschend starkes Ergebnis der Unionsparteien zusammen mit einem fragmentierten Bundestag paradoxerweise dazu führen, dass es sehr schwierig wird, eine Regierungsvereinbarung zusammenzuschustern, die die AfD ausschließt. Ähnliches war kürzlich in mehreren ostdeutschen Bundesländern der Fall, was zur Bildung von Minderheitskoalitionen unter Führung der Christdemokraten in Sachsen und Thüringen führte. Das deutsche Grundgesetz9 wurde so konzipiert, dass es schwierig ist, Neuwahlen auszulösen, um Kompromisse zu vermeiden. Zumindest theoretisch scheint Deutschland gut auf eine Minderheitsregierung vorbereitet zu sein – auch wenn die meisten der derzeitigen nationalen politischen Führung dies nicht sind.10 Eine Minderheitsregierung zu stürzen wäre schwierig, solange die Opposition gespalten ist. Möglicherweise könnte eine solche Regierung versuchen, Mehrheiten auf Einzelfallbasis zu suchen, obwohl wir zugeben, dass dies sehr stark gegen die politische Kultur Deutschlands verstoßen würde. Plausibler, zumindest in der Theorie, wären Tolerierungsvereinbarungen, wie sie in den 1990er Jahren in den ostdeutschen Bundesländern durchaus üblich waren, als formelle Koalitionen mit der PDS (Vorgängerin der Partei Die Linke) weithin als Tabu galten, die politische Realität jedoch so aussah, dass sowohl die PDS als auch die Sozialdemokraten etwas davon hatten, wenn erstere sich im Gegenzug für politische Zugeständnisse bereit erklärten, linksgerichtete Landesregierungen nicht zu stürzen. Dieses Mal fällt es uns schwer, uns ähnliche Tolerierungsmodelle zwischen Christdemokraten und AfD im Bundestag vorzustellen, obwohl dies ein Thema für die übernächste Wahl sein könnte – insbesondere, wenn es in der Zwischenzeit auf Landesebene versucht wird.
1.5 Die Rolle des Bundesrats
Kompromisse werden auch durch die Tatsache gefördert, dass die Macht in Deutschland breit verteilt ist. Am wichtigsten ist, dass das Kräfteverhältnis im Oberhaus, dem Bundesrat, durch häufige Regionalwahlen in jedem der Bundesländer und die anschließende Bildung von Landesregierungen bestimmt wird. Dadurch erhalten selbst kleine Parteien, die auf Landesebene an der Regierung beteiligt sind, ein erhebliches Vetorecht in den meisten Angelegenheiten von legislativer Bedeutung.
Derzeit sind alle in diesem Bericht genannten Parteien im Bundesrat vertreten, mit Ausnahme der AfD, die bisher an keiner Landesregierung beteiligt ist, da alle anderen Parteien bisher eine Koalition mit ihr abgelehnt haben. Das bedeutet, dass selbst wenn die AfD irgendwie als stärkste Kraft aus der nächsten Bundestagswahl hervorgehen und sich mit einer geschlagenen, geschrumpften und demoralisierten Union verbünden könnte, die daraus resultierende Regierung in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt wäre, von Gesetzen, die für die Bundesländer relevant sind, bis hin zur Änderung von Teilen des Grundgesetzes.11 Unabhängig von der Agenda erfordert die Reform Deutschlands einen breiten Konsens, der über die Parteien hinausgeht, die auf Bundesebene an der Regierung beteiligt sind.