China: Durchatmen!

Allianz Global Investors "Die Woche voraus" vom 03.02.2023

Nach dem herausfordernden Jahr 2022 sind die Kapitalmärkte fast begeistert ins neue Jahr 2023 gestartet. Nachlassende Inflationsdynamik hat sowohl Aktien- als auch Anleihemärkten in den ersten Wochen des Jahres Auftrieb gegeben. So wie die Inflationssorgen im letzten Jahr auf den Märkten lasteten, so scheint ihr Zurückweichen die Anleger in den meisten Vermögensklassen deutlich zu entspannen – wie ein langersehntes Durchatmen nach einer Phase erhöhter Muskelanspannung.

Die Rechnung erscheint einfach: Rückläufige Inflationsdynamik dürfte es den Zentralbanken ermöglichen, den Gipfel ihres Zinszyklus früher und womöglich auch auf einem etwas geringeren Zinsniveau zu erreichen als vor einigen Monaten befürchtet.

Gleichzeitig haben sich die beiden großen von außen an die Weltkonjunktur herangetragenen Belastungsfaktoren, die europäische Energiekrise und die restriktive Eindämmung der Covid-Pandemie in China, deutlich entschärft – ein Unterstützungsfaktor. In Europa hat im Wesentlichen das insgesamt milde Winterwetter die Nachfrage nach Heizenergie gedämpft, die Gasspeicher dürften im Frühling voller sein als vor dem Winter befürchtet.

In China hat die Führung unerwartet schnell realisiert, dass ein Festhalten am Zero-Covid-Ansatz nur schwer durchhaltbar sein könnte. Die seit November erfolgten abrupten Öffnungsschritte zeigen den Willen an, nun schnellstmöglich das Zwischenziel der Herdenimmunität erreichen zu wollen. Auf eine schrittweise, aber im Vergleich zu vielen anderen Ländern sehr zügige Erholung der Wirtschaftsaktivität in der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft darf ab sofort gehofft werden.

Zurück zur Inflation: Während auf den Gütermärkten durch gedrosselte Nachfrage und wiedergekehrtes Angebot schon ein guter Teil der Wegstrecke zu einem neuen Gleichgewicht zurückgelegt wurde, erscheint auf den Arbeitsmärkten erst ein kleiner Teil des Weges bewältigt. In vielen Ländern steigen Löhne weiter, die Nachfrage nach Arbeitskräften bleibt robust und die Bereitschaft seitens der Arbeitnehmer, mehr Arbeitskraft anzubieten, erhöht sich nur zögerlich. Für die Zentralbanken ergibt sich hier nur wenig Spielraum zum Durchatmen.

Wie viele Atemzüge für Anleger zum Durchatmen bleiben, entscheidet auch der Konjunkturausblick. Die Wachstumsperspektiven in Asien dürften sich durch den Strategieschwenk in China klar verbessert haben. Auch in Europa könnte die für den Winter angenommene Rezession zunächst ausbleiben. Produktionsausfälle erscheinen inzwischen unwahrscheinlich und die Hilfspakete einiger Regierungen zur Abfederung hoher Energiepreise dürften den Konsum stabilisieren.

Bleiben die USA: Hier lässt sich eine Abkühlung bei Geschäftserwartungen, Konsum und Produktion ausmachen. Darauf erscheinen die Aktienmärkte nicht wirklich vorbereitet, auch wenn schon sehr viel von einer bevorstehenden Rezession gesprochen wurde. Es sieht so aus, als könnte die Atempause für Anleger in Asien und Europa etwas länger sein als in den Vereinigten Staaten.

Das legt folgende taktische Allokation für Aktien und Anleihen nahe:

  • Die Kapitalmärkte scheinen sich inmitten einer Übergangsphase zu befinden: Inflationssorgen nehmen ab, Wachstumssorgen nehmen auf wichtigen Märkten wie den USA tendenziell zu. Dies könnte taktisch auf eine Stabilisierung der Anleihemärkte deuten. An den Aktienmärkten dürfte der Inflationsgipfel für kurzfristige Erleichterung sorgen. Vor allem dann, wenn die Wachstumsabkühlung zunächst milder verläuft oder länger auf sich warten lässt als erwartet. Ein solches Szenario erscheint in Europa derzeit etwas wahrscheinlicher als in den USA.
  • Für die Schwellenländer und allen voran China könnte sich ein Zeitfenster mit Investitionsgelegenheiten eröffnen: Die Abkehr von Zero-Covid in China hat die Sichtweise auf die Region Asien grundlegend verbessert, sowohl auf der Aktien- als auch auf der Anleiheseite. Dazu passt eine mögliche Gipfelbildung beim US-Dollar – traditionell gilt ein starker US-Dollar als Belastungsfaktor für die Kapitalmärkte der Schwellenländer
  • Die Stimmung unter den professionellen Investoren scheintnoch vorsichtig zu sein, die Bargeldbestände erscheinen weiter hoch. Das Ausbleiben schlechter Nachrichten könnte zur Eindeckung von „Short“-Positionen“ (also „Leerverkaufs-Positionen“) führen und riskante Vermögensklassen wie Unternehmensanleihen noch eine Zeit lang durchatmen lassen.

Investmentthema: Grünes Wachstum

  • Klimawandel ist das drängendste Problem unserer Zeit. Das hat auch das World Economic Forum in Davos ins Bewusstsein zurückgerufen.
  • "Degrowth" – also der bewusste Verzicht auf Wirtschaftswachstum – ist dabei keine Lösung. Nicht zuletzt die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen erinnern uns daran, dass der Kampf gegen Hunger und Armut weitergeführt werden muss.
  • Die Vereinten Nationen schätzen das Wachstum der Bevölkerung Afrikas bis zum Jahr 2100 um drei Milliarden auf dann 4,3 Milliarden Menschen. Dabei spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO schon jetzt von den „forgotten 3 billion“ – den vergessenen drei Milliarden Menschen, die auch heute noch nicht über saubere Energie im Haushalt verfügen, sondern an offenen Feuern und unzulänglichen Öfen kochen.
  • Die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft sollte zuerst unter Investitions- und weniger unter Kostenaspekten gesehen werden, wobei sich gleichzeitig die demografische Entwicklung, die voranschreitende Verstädterung und die Rohstoffknappheit in diese Entwicklung einfügen. Aus Anlegersicht dürften KI („künstliche Intelligenz“), Investitionen in smarte Energien und die Energieeffizienz, aber auch Investitionen in „Wasser“ (Versorgung und Aufbereitung) und Nahrungsmittelversorgung („Food Security“) von diesen Entwicklungen profitieren. Unter geopolitischen Aspekten kommt noch die IT-Sicherheit („Cybersecurity“) als Anlagemöglichkeit hinzu.

Jetzt aber erst mal durchatmen, meint Ihr

Stefan Rondorf
Senior Investment Strategist
Global Economics & Strategy
 

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