Carpe diem

Allianz Global Investors "Die Woche voraus" vom 15.07.2022

Erinnern Sie sich noch an die Aussichten zum Jahresanfang? Allgemein glaubten wir, 2022 werde ein gutes Jahr werden – die Weltwirtschaft wuchs kräftig, die Aktienkurse hatten Rekordhöchststände erreicht, ein Abklingen der Pandemie schien bevorzustehen, und in Europa herrschte Frieden. Das hat sich grundlegend geändert. Der Aktienmarkt befindet sich in einer ausgeprägten Baisse, in der Ukraine rollen Panzer, China hat immer noch mit Omikron zu kämpfen, und die Furcht vor einer Rezession nimmt zu.

Weil sich die Situation so rasch verschlechtert hat, ist der Kontext umso wichtiger. Offensichtlich werden die Zeiten schwieriger – vor allem für europäische Länder, die von Energie aus Russland abhängig sind. Wenn Russland seine Gaslieferungen stoppt, ist eine Rezession eventuell unvermeidlich. Und für Russland könnte es umso verführerischer werden, den Hahn zuzudrehen, wenn der Winter naht und der Energiebedarf zunimmt.

In den USA wird gemunkelt, die Rezession sei bereits eingetreten. Mag sein. Im ersten Quartal 2022 schrumpfte die US-Wirtschaft um 1,6%, und der BIP-Tracker der Atlanta Fed deutet für das zweite Quartal 2022 auf einen Rückgang um 1,2% hin. Falls das zutrifft, erfüllen die USA die „technische Definition“ einer Rezession, also ein negatives Wachstum in zwei aufeinander folgenden Quartalen.

Aber in den USA wird eine Rezession etwas anders definiert als in anderen Ländern. Anfang und Ende einer Rezession werden von einer privaten Organisation ermittelt: dem National Bureau of Economic Research (NBER). Das NBER legt anhand verschiedener Faktoren fest, wann der Höhe- bzw. Tiefpunkt eines Zyklus erreicht ist. Zu diesen Faktoren gehören das Lohnwachstum, die Beschäftigung, die Industrieproduktion und die realen Konsumausgaben – und all diese Daten steigen bisher zumeist weiter an.

Woher kommt dieser Gegensatz? Das schwache Wachstum des US-BIP im ersten Halbjahr 2022 ist nahezu ausschließlich auf externe Faktoren bzw. Faktoren zurückzuführen, die im Zeitablauf zum Mittelwert zurückkehren (Außenhandel und Lagerbestände). Lässt man diese Faktoren außer Acht, wächst das US-BIP weiterhin, wenn auch langsamer. Der US-Arbeitsmarktbericht vom vergangenen Monat zeigt deutlich, was gegen eine Rezession spricht. In der Wirtschaft wurden 372.000 neue Stellen geschaffen, und die Arbeitslosenzahlen verharrten nahe einem 50-JahresTiefstand. Hier in San Diego genießen Einwohner und Touristen den Sommer – Restaurants und Strände sind voll. Auch wenn die Preise gestiegen sind – die Leute geben ihr Geld aus.

Das heißt nicht, dass eine Rezession in den USA ausgeschlossen ist. Wenn man nur lange genug wartet, tritt mit hundertprozentiger Sicherheit ein Abschwung ein. Aber die wirtschaftliche Dynamik könnte kräftig genug sein, damit das Wachstum noch bis zum Jahresende 2022 anhält. Wahrscheinlich hängt einiges von der Inflation ab und von der Frage, wie stark die US-Notenbank Federal Reserve („Fed“) und andere Zentralbanken die Zinsen anheben.

Die Woche voraus

In der nächsten Woche stehen Unternehmensberichte, geldpolitische Entscheidungen und zahlreiche Wirtschaftsdaten an.

In Asien wird das Interesse vor allem Japan gelten, wo am Mittwoch und Donnerstag Handels- und Inflationszahlen veröffentlicht werden. Die Exporte könnten im Juni angestiegen sein, die Kernrate der Inflation könnte unverändert bei 2,1% verharrt haben. Ebenfalls am Mittwoch äußert sich die Bank of Japan (BoJ) zur Geldpolitik. Da die Rohstoffpreise angestiegen sind und der Yen so schwach notiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr, muss die BoJ eventuell ihre Inflationsprognose für das Haushaltsjahr 2022 anheben. Sie wird ihre Kurzfristzinsen wohl nicht erhöhen, gerät aber zunehmend unter Druck, den Korridor für die Renditekurvenkontrolle nach oben zu verschieben. Auch im Euroraum werden Inflation und Geldpolitik im Mittelpunkt stehen; am Dienstag wird der Verbraucherpreisindex (VPI) veröffentlicht, am Donnerstag steht eine Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) an. Der Konsens rechnet mit anhaltend kräftigem Preisdruck; die Kernrate des VPI könnte sich im Juni von 3,7% auf 3,8% beschleunigen, die Gesamtrate unverändert bei 8,6% verharren. Angesichts der deutlich über dem Zielwert liegenden Inflation kündigte die EZB bei ihrer vorhergehenden Sitzung eine Zinserhöhung um 25 Basispunkte („Bp.“) im Juli an. EZB-Präsidentin Christine Lagarde könnte außerdem erneut Maßnahmen gegen eine Marktfragmentierung versprechen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks richtet sich die Aufmerksamkeit auf den US-Immobilienmarkt. Im Zuge der deutlich strafferen Geldpolitik sind die Hypothekenzinsen in diesem Jahr in die Höhe geschnellt. Die Auswirkungen sind zunehmend zu spüren. Am Montag, Dienstag und Mittwoch stehen verschiedene Daten an: Die Verkäufe von Altbauten und das Vertrauen der Bauherren wahrscheinlich jeweils auf einen Zwei-Jahres-Tiefstand fallen, und die Zahl der Baugenehmigungen könnte einen Zehn-Monats-Tiefstand erreichen.

Technische Daten

Das Umfeld für chancenreiche Vermögenswerte bleibt unsicher. Bei Aktien warten wir auf Anzeichen für eine Kapitulation, die durch die zunehmenden Wachstumssorgen ausgelöst werden könnte. Der Rückgang der Rohstoffpreise und der Renditen von US-Staatsanleihen („Treasuries“) deutet bereits in diese Richtung.

Genießen Sie den Sommer, solange er da ist.

Greg Meier
Director, Senior Economist, Global Economics & Strategy
 

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