Ein stabiles Gleichgewicht
Nachdem wir nachgewiesen haben, dass eine Problematik die Aktien- und die Zinsmärkte verbindet (siehe Carmignac‘s Note vom März „Ein besseres Verständnis der Herausforderungen des Zinsanstiegs für die Märkte“), geht es nun darum, deren Entwicklung abzuschätzen. Die neuen Informationen, die im März hinzugekommen sind, bestätigen im Moment das Risiko eines weiteren Anstiegs der Anleihesätze und damit einer erneuten volatilen Phase der Aktienmärkte. Dieses Risiko wird jedoch dadurch gemindert, dass bereits ein Teil des Wegs hinter uns liegt und verschiedene gegenläufige Kräfte im Spiel sind, die dafür sorgen, dass ein ungebremster Wirtschaftsaufschwung nur von kurzer Dauer sein wird. Bis dahin erscheint es uns nach wie vor eher angebracht, eine mögliche instabile Phase an den Märkten in Betracht zu ziehen, damit das hohe Potenzial unserer langfristigen Anlagen bewahrt werden kann. Die Zahlen, die in den nächsten Monaten sowohl von der Wirtschaft als auch der Politik vorgelegt werden, könnten entscheidend dafür sein, ob sich eine neue Tendenz an den Märkten herauskristallisiert.
"Die Verzögerungen, die es bei den europäischen Impfkampagnen gegeben hat, kommen den Kontinent nun teuer zu stehen"
Das Szenario einer Überhitzung der US-Wirtschaft ist weiterhin aktuell
Auch in den Vereinigten Staaten steigen die Infektionszahlen seit ein paar Wochen wieder, was mit der Verbreitung neuer, viel virulenterer Coronavirus-Varianten zu tun hat. Aber dank der Fortschritte ihres Impfprogramms, das zurzeit in einem Tempo von 0,8 Prozent der Bevölkerung pro Tag fortgesetzt wird, verschlechtert sich die Gesundheitslage dort lange nicht so stark wie in Europa und den Schwellenländern (ohne China). Außerdem bleibt die Zahl der Krankenhausaufenthalte konstant. Dies bedeutet, dass die Wiederöffnung der US-Wirtschaft bereits angelaufen ist, während gleichzeitig die im Konjunkturpaket der Biden-Regierung vorgesehene Verteilung von Schecks an die Privathaushalte beginnt. Die Wirtschaftstätigkeit ist nach unseren Schätzungen in den zuletzt heruntergefahrenen Sektoren (Restaurants, Hotels, Luftfahrt und Freizeit) um ungefähr 50 Prozent gestiegen. Im Übrigen ergibt sich aus den Hochfrequenzdaten ein anhaltender Aufschwung des Arbeitsmarkts in den meisten US-Bundesstaaten. Folglich dürfte sich die Dynamik fortsetzen, und ein Wachstum des US-BIP von mehr als 7 Prozent im Jahr 2021 erscheint inzwischen plausibel. Aus dieser Warte betrachtet, kommen die Verzögerungen, die es beim Start der europäischen Impfkampagne gegeben hat, den Kontinent nun teuer zu stehen, denn sie bedeuten erneute Einschränkungen der Wirtschaftstätigkeit, die noch ein paar Monate alternativlos sein werden. Das Wachstum dürfte in Europa in diesem Jahr trotz des äußerst günstigen Basiseffekts kaum über 4 Prozent hinauskommen. Der Hauptgrund für diese unterschiedliche Wirtschaftsdynamik ist mit Sicherheit der US-Dollar, der seit Jahresanfang fester geworden ist, obwohl die US-Defizite weiter angewachsen sind. Das in den USA bestehende Zusammenspiel zwischen einer lang aufgestauten Verbrauchernachfrage, die endlich befriedigt werden kann, und einer anscheinend grenzenlosen haushaltspolitischen Unterstützung stützt das Szenario einer möglichen Überhitzung, d. h. eines Wachstums, das von Inflationsdruck begleitet wird.
Die Zentralbanken stehen vor einem Dilemma
Wie wir bereits in unserer Note vom März erläutert haben, steckt die Fed gewissermaßen in einer Zwickmühle: Sie muss nämlich entscheiden zwischen dem Risiko einer Überhitzung und dem Risiko eines Rückgangs der Märkte oder, um es pathetischer auszudrücken, zwischen der grundsätzlichen Einhaltung der Ziele einer demokratisch gewählten Regierung und ihrer Pflicht, die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten. Denn es ist offensichtlich, dass die Biden-Regierung sehr fest entschlossen ist, jetzt ihr Konjunkturpaket, den „American Jobs Plan“, mit einem Umfang von zwei Billionen Dollar durchzubringen. Gleich danach dürfte zudem ein weiteres, eine Billion Dollar schweres Paket im sozialen Bereich folgen. Die dafür vorgesehenen Summen sind erneut beispiellos, und da es politisch geboten erscheint, das Wirtschaftswachstum noch mindestens bis zu den US-Zwischenwahlen Ende 2022 weiter zu stützen, dürfte die Regierung auch nächstes Jahr an dieser expansiven Haushaltspolitik festhalten. Indem sie in diesem Umfeld die geldpolitische Straffung auf die lange Bank schiebt, nährt die Fed die Furcht vor einem auf längere Sicht einsetzenden Inflationsanstieg und trägt so zum Anstieg der langfristigen Zinsen bei. Denn Anleger fürchten zu Recht, dass die vorübergehende Inflation dieses Jahres, die durch Basiseffekte, die Nachfrageerholung und Engpässe in den Lieferketten hervorgerufen wurde, anhält, weil die Einkommen der Verbraucher steigen und die Arbeitslosigkeit sinkt – zwei ausdrückliche Ziele des Konjunkturpakets. Die Aussicht auf eine Fortsetzung des Anstiegs der langfristigen Zinsen stellt nicht nur ein Risiko für den Wert von Finanzanlagen dar, sondern für mehrere Sektoren und in erster Linie den Immobiliensektor.
Der Druck auf die Fed, den Zeitpunkt der Straffung ihrer Geldpolitik – Reduzierung der monatlichen Anleihenkäufe und Erhöhung der Leitzinsen – vorzuziehen, ist also hoch. Aber eine solche Straffung würde auf jeden Fall die kurzfristigen Marktzinsen steigen lassen, sodass gleichzeitig ein ähnliches Risiko für die Märkte oder sogar für die Konjunktur an sich entstünde. Diese Zwickmühle rechtfertig aus unserer Sicht eine sehr aktive Steuerung des Risikos von Zinserhöhungen in unseren Anleiheportfolios.
Unter diesem Aspekt hat der Rückstand Europas im Konjunkturzyklus, der nicht nur auf den Mängeln der europäischen Impfpolitik, sondern auch auf der Bescheidenheit der Konjunkturpakete im Vergleich zu den USA beruht, immerhin den Vorteil, dass bisher weniger Aufwärtsdruck auf die europäischen Zinsen besteht. Paradoxerweise erklärt dieser Nachzügler-Status somit die jüngste Outperformance der europäischen Aktienmärkte und insbesondere der zyklischen Sektoren. Doch die Finanzmärkte und die Wirtschaft hängen weltweit zusammen. Daher sollte man zurzeit die Wahrscheinlichkeit nicht unterschätzen, dass Europa trotz seiner strukturellen Nachteile aufholt, vor allem wenn das Impftempo endlich zunimmt. Wir sind daher in Bezug auf die europäischen Zinsmärkte zuletzt vorsichtiger geworden.
"Wie schon Ende der 1960er-Jahre leiten die Vereinigten Staaten nun eine radikale wirtschaftspolitische Wende ein."
Ein instabiles Gleichgewicht der Märkte
Vorerst wiegt der Enthusiasmus wegen der Konjunkturerholung in den Köpfen der Anleger schwerer als die Risiken aufgrund einer Überhitzung, einer dauerhaft steigenden Inflation und eines übermäßigen Zinsanstiegs, die vor allem aus europäischer Sicht in der Tat etwas utopisch klingen. Außerdem wurde schon viel erreicht – zyklische Aktien haben zuletzt eine deutliche Outperformance erzielt und das erste Quartal dieses Jahres war für 30-jährige US-Staatsanleihen das schlechteste seit 1919! Im Übrigen besteht aufgrund der demografischen Entwicklung, der Überschuldung und disruptiver Technologien nach wie vor ein hoher struktureller Disinflationsdruck. Der technische Wandel hat sich wegen der Corona-Krise mit Sicherheit beschleunigt. Wie wir schon im vergangenen Monat erläutert haben, rechtfertigen diese Faktoren neben einer taktischen Positionierung in bestimmten, von der Konjunkturerholung begünstigten Sektoren auch eine hohe Allokation in hochwertigen Technologietiteln mit einem sehr gut absehbaren mittelfristigen Gewinnwachstum, deren Kurse nun wieder sehr angemessen sind. Als Risikomanager halten wir es jedoch für wichtig, auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Impulse, die die US-Wirtschaft erhalten hat, auf den Finanzmärkten für einen Wechsel der seit zehn Jahren geltenden Paradigmen sorgen. Denn die Vereinigten Staaten leiten nun, wie Ende der 1960er-Jahre, eine durchaus radikale wirtschaftspolitische Wende ein. Im Übrigen könnte der Dollarkurs, wie schon damals, als auch die „Sonderstellung“ der USA nicht mehr ausreichte, um das ungeheure Defizit zu rechtfertigen, letztendlich unter Druck geraten, wovon die Schwellenländer profitieren würden. Daher bleibt unsere Anlageverwaltung in den kommenden Monaten auf eine Portfoliozusammensetzung mit Schwerpunkt auf unseren langfristigen Überzeugungen – von denen einige wie beispielsweise die Energiewende vor dem Hintergrund der US-Haushaltspolitik noch stärker geworden sind – und eine sehr aufmerksame Beobachtung der Marktungleichgewichte ausgerichtet.
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Quelle: Carmignac, Bloomberg, 31/03/2021