Zeitenwende
Die Invasion der russischen Armee in die Ukraine dürfte eine Zeitenwende für die gesamte westliche Welt bedeuten. Auf diese neue Realität werden sich Anleger höchstwahrscheinlich nicht von heute auf morgen einstellen können – zu viele Fragen und Zielkonflikte müssen beantwortet und abgewogen werden. Was aber ist auf Sicht der nächsten Monate für Preise, Konjunktur und Märkte zu erwarten?
Eine Zeitenwende scheint sich bei den Inflationsraten abzuzeichnen. Der Preisauftrieb hat sich weiter verschärft: Schon vor der militärischen Eskalation in der Ukraine gab es viele Anzeichen für eine breitere und sich verstetigende Inflation. Diese dürften sich durch stark gestiegene Preise vor allem für Energie und Nahrungsmittel verstärken. Zumindest ist von einer späteren Normalisierung von Preissteigerungsraten auszugehen. Durch die Sanktionen gegen Russland könnte es zudem zu neuen Belastungen in den Lieferketten und auf Transportwegen kommen.
Entsprechend hat sich der Konjunkturausblick eingetrübt. Gestiegene Preise schmälern das verfügbare Haushaltseinkommen für den Konsum, Unternehmen haben weniger Planungssicherheit und könnten Investitionsentscheidungen zurückstellen. Auf der positiven Seite sollte sich, trotz verbleibender Unsicherheiten im Umgang mit der Pandemie, in vielen Ländern eine dynamische Nachfrage nach Dienstleistungen im Bereich Freizeitgestaltung und Reisen entfalten. Zudem dürften die Ersparnisse aus den vergangenen Pandemiejahren die Belastungen durch gestiegene Preise zumindest teilweise abfedern. In der Summe ist auf Sicht der nächsten Monate eine weltweite Wachstumsverlangsamung, aber noch keine Rezession zu erwarten. Dies gilt auch für Europa, trotz einer deutlich stärkeren Verflechtung mit Russland und der Ukraine.
Eine Wachstumsverlangsamung sollte auch das Gewinnwachstum schmälern. Gingen die Schätzungen, beispielsweise für den europäischen Stoxx600-Index, vor der Krise von etwa 9 % Gewinnwachstum für 2022 aus, könnte sich dies nun in Richtung stagnierender Gewinne entwickeln –eine Gewinnrezession ist damit auch für Europa keine ausgemachte Sache, unter anderem aufgrund des ausgleichenden Effekts steigender Gewinne in Energie- und Rohstoffsektoren.
Höhere Inflation und gestiegene Abwärtsrisiken für die Konjunktur bringen die Zentralbanken in eine Zwickmühle. Sowohl die Europäische Zentralbank als auch die Federal Reserve haben sich in den letzten Wochen zumindest verbal auf die Seite der Inflationsbekämpfung geschlagen. Beide Zentralbanken waren aber bis zuletzt sehr expansiv unterwegs, weshalb sie nun zügig und kräftig gegensteuern müssen – ein schwieriger Drahtseilakt. Der Weg zu einer nachhaltig inflationsdämpfenden Geldpolitik mit Zinsen über einem neutralen Niveau (für die USA wird dies beispielsweise bei etwa 2,5 % angenommen) ist weit.
Genau dies bleibt der Hoffnungsschimmer für die Aktienmärkte und andere risikoreichere Vermögensklassen: Die Realzinsen, also die Zinsen abzüglich der derzeit hohen Inflationsraten, dürften noch auf längere Sicht negativ bleiben. Sachwerte wie Aktien sollten also trotz eines herausfordernden Umfelds mittelfristig gegenüber nominalen Vermögensklassen wie Staatsanleihen attraktiv bleiben. An dieser Stelle bleibt die Zeitenwende aus.
Taktische Allokation Aktien & Anleihen
- Auch wenn konjunkturelle Abwärtsrisiken derzeit überwiegen, erscheint das Risiko eines Abrutschens in eine Rezession für die nächsten Monate eher gering. Vor der russischen Invasion in die Ukraine nahm die Weltwirtschaft gerade wieder etwas mehr Schwung auf, nachdem die Effekte der Omikron-Virusvariante in den Wintermonaten gebremst hatten. Die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Dienstleistungssektors nach zwei Pandemiejahren ist weiter berechtigt.
- Sollten sich die Ölpreise längere Zeit über 120 US-Dollar pro Barrel festigen, hätten sie sich über einen Zweijahreszeitraum in etwa verdoppelt. Dies bedeutete in der Vergangenheit oft stärkere Konjunkturabkühlungen. Eine merklich verringerte Energieintensität (und damit eine gesunkene Energieabhängigkeit) westlicher Volkswirtschaften sowie eine noch expansive Geldpolitik entschärfen jedoch derzeit das negative Signal dieser Daumenregel.
- Entsprechend erscheint die Diskussion über ein Stagflationsszenario analog der 1970er Jahre aktuell als verfrüht.
- Die Wahrscheinlichkeit für Risikoszenarien wie Cyberangriffe oder den Angriff eines NATOStaates durch Russland erscheint derzeit gering, ist aber nicht null.
- Stark gestiegene Inflationsraten und der Druck auf die Zentralbanken haben auf den USRentenmärkten einen Bärenmarkt historischer Dimension verursacht. Relativ dazu bleiben Aktien als Sachwerte gestützt, vor allem in einem Umfeld, in dem Realzinsen noch länger in negativem Terrain verharren dürften.
Eine Zeitenwende zum Positiven wünscht uns allen
Stefan Rondorf
Senior Investment Strategist, Global Economics & Strategy
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